Volkstrauertag 2022

Vor 80 Jahren am 1. Januar 1943 schreibt Gerhard Küpper einen Brief an seine Tochter Irmgard.

Meine liebe kleine Irmi, wenn Dein Vati Dir einen extra Brief schreibt, dann muß es schon eine wichtige Bedeutung haben und die hat es. Heute bist Du noch klein, vermagst den Brief noch gar nicht zu lesen. Deine Mutter soll ihn Dir später mal vorlesen, ihn Dir geben, wenn Du groß und reif bist.“

So beginnt er, der Brief des Papas an seine damals dreijährige Tochter. Es war ein Geburtstagsbrief und zugleich das letzte Lebenszeichen, das die heute 82-jährige Irmgard Herzog von ihrem Vater hat. Zeit ihres Lebens trug sie den Brief in ihrem Herzen und in ihren Gedanken. Die letzte Erinnerung an den Vater, den sie nie wirklich kennengelernt hat.
Irmgard Herzog ist eine von Hunderttausenden in Deutschland, deren Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Der Feldpostbrief, datiert vom 1. Januar 1943, ist ein bewegendes Dokument aus einer furchtbaren Zeit. Gerhard Küpper, der Vater von Irmgard Herzog, hatte damals nur noch wenige Tage zu leben. Er gehörte zu den Soldaten, die in Stalingrad eingekesselt waren. Gerhard Küppers Zeilen deuten darauf hin, dass er keine Hoffnung mehr hatte. Es war ein Abschiedsbrief.

2,5 Mio. Soldaten standen sich damals vor genau 80 Jahren an der Wolga gegenüber. Am Ende verloren 700.000 deutsche, russische, rumänische, italienische, ungarische und kroatische Soldaten ihr Leben. Allein im Kessel von Stalingrad starben 150.000 deutsche Soldaten. Getötet durch Waffen, Hunger und Kälte. 108.000 kamen in Gefangenschaft von denen nur 6000 Soldaten heimkehrten.
Stalingrad ist zum Synonym von Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges geworden.

80 Jahre nach den Ereignissen tobt ein neuer Krieg. Eines der Zentren Luhansk ist gerade mal 460 km von Wolgograd entfernt. Eine Strecke so  weit wie von Berchtesgaden nach Hof an der Saale. Jahrzehntelang haben sich Deutsche und Russen für Versöhnung eingesetzt. Jahrzehntelang hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gemeinsam mit russischen Freunden die Gräber gepflegt. Gemeinsam wurde die Identität bis heute gefundener Gebeine in der Region festgestellt und wurden Nachfahren informiert. Im Frühjahr 2019 sticht ein Mann namens Victor Komarow einen Spaten bis zum Holm in nasses Erdreich und wirft die Erde hinter sich an den Rand einer Grube. „Massengrab in Stalingrad gefunden“, lautete die Überschrift einer Pressemitteilung. Mit dabei die Überreste von Gerhard Küpper, den seit 76 Jahren vermissten Vater von Irmgard Herzog.

Sag wo die Soldaten sind,
über Gräbern weht der Wind.
Wann wird man je verstehn?

Das Lied von Peter Segers in seiner deutschen Version von Hildegard Knef hat ukrainische Wurzeln. Es geht auf eine Textzeile eine Don-Kosaken-Liedes zurück. Seit dem 24. Februar diesen Jahres ist es traurige Gewissheit. Wir haben nicht verstanden und wir werden wohl auch nicht verstehen. Und wie sich dabei die Zeichen beängstigend gleichen. Hitler schickte seinen Propagandaminister vor um im Februar 1943 die deutsche Bevölkerung über die Kapitulation der 6. Armee zu informieren. Ruhmhaft, tapfer, Ehre, Bolschewiken, Kommunisten waren die Worte die über die Sender liefen. Doch die Deutschen hatten in der Heimat gelernt diesen Orwellschen Neusprech zu interpretieren. Ab da ging es rückwärts.

Die Propaganda und Orwells 1984 sind zurück. Sonderoperation das neue Wort für Angriffskrieg. Planmäßigkeit für einen gescheiterten Blitzkrieg. In zerstörten Kinderkrankenhäusern waren angeblich Nazi-Milizen festgesetzt. In der Sprache nennt man die Beschönigung Euphemismus. Ein mächtiges Instrument: Er wertet auf, wenn wir von Hausangestellten statt von Dienern sprechen oder von Seniorenresidenzen statt von Altersheimen. Er schont, wenn wir Kritik als Lob verpacken. Und er verhüllt, wenn Massenentlassungen zur „Umstrukturierung“ werden oder die Depression zum Burnout.

Der Krieg in der Ukraine ist zwar über 2500 km von unserem Ort hier in Arth entfernt, aber seine Auswirkungen spüren wir hier direkt vor unserer Haustür. Die Partnerschaftsbeziehungen zwischen dem Landkreis Landshut und dem Rajon Nowosibirsk liegen auf Eis. Eine rot-grüne Bundesregierung wirbt für die Lieferung von Panzern und schweren Waffen an die Ukraine. Das im April diesen Jahres im Further Maristengymnasium geplante öffentliche Gelöbnis wird wegen der Mobilisierung der bayerischen Sanitätskräfte aus Feldkirchen abgesagt.

Doch auch die Zivilbevölkerung spürt die Auswirkungen des Krieges. Versorgungsengpässe, Gaspreisexplosion und ganz besonders – eine nie gekannte Unsicherheit. 76 Jahre Frieden und doch war alle Versöhnungsarbeit dafür umsonst?  Nein. Ohne die ständige Mahnung zum Frieden. Ohne die ständige Bemühung um den Menschen der mir eigentlich fremd ist und dem mein Großvater feindselig gegenüber stand, wären diese 76 Jahre Frieden in Europa nicht möglich gewesen. Es ist und bleibt die Verantwortung jedes Einzelnen von uns für diesen Frieden einzustehen. Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn Euphemismen die Deutungshoheit übernehmen. Wir sollen und müssen Nein sagen, wenn Ungerechtigkeit und Hass gesät wird. Diese Verantwortung haben wir vor uns und unseren Kindern. Damit nie wieder eine Mutter mehr ihren Sohn beweinen muss.