Heilige Bienen

Es war ein warmer Sommerabend, wie er in den ersten Ferientagen selten schöner sein konnte. Die Sonne stand schon tief, das Licht goldfarben, der Asphalt flimmerte.
Eigentlich warteten noch fünfzig Kommunalrechtsklausuren auf Korrektur – Arbeit, die ich mir in den nächsten Tagen nicht würde ersparen können. Aber an diesem ersten Abend allein war der Gedanke an Rotstift und Papier schlicht unerträglich. Die KTM stand vor der Tür. Sie musste weiter eingefahren werden, und das hieß: nicht schneller als 6.500 Umdrehungen. Eine Entschleunigung, zu der man sich zwingen muss.

Mein Ziel: der Landkreis Pfaffenhofen. Dort standen die Windkraftanlagen, die einst einen bayernweit bekannten Bürgerentscheid ausgelöst hatten. Damals hatte der Bürgermeister alle Abstimmungsunterlagen per Briefwahl an jeden Haushalt verschickt. Die Beteiligung war enorm. Das übliche „Not in my backyard“ war ausgebremst worden – der Widerstand kleiner Gruppen, die Vorteile nicht sehen wollten, war überstimmt.
Ich wollte diese Windräder sehen. Also nahm ich kleine Straßen, ließ Handy und Karten-App in der Hosentasche und folgte nur Kurven, Feldern und der Beschilderung. Schon von weitem ragten die Anlagen über den Horizont. Ohne es zu planen, lenkte mich der Zufall fast bis an ihre Füße – ein kleiner Ortsteil, ein paar Häuser.
Aber nach über einer Stunde in dicker Motorradjacke meldete sich der Durst. Ein Biergarten wäre jetzt schön. Ein Dienstagabend ist dafür aber die falsche Zeit, das wusste ich – und doch stand plötzlich ein Schild am Straßenrand. Ein interessanter Name, irgendwas mit Hallertau und eine Biermarke von der ich noch nie gehört hatte. Ich bog ab.
Die Straße wurde enger, zog sich zwischen Häusern und Bäumen hindurch, schien ins Nichts zu führen. Ich dachte, ich hätte mich verfahren. Dann: ein Wirtshaus in Alleinlage, alte Bäume, ein Biergarten, der in der Abendsonne glänzte. Die Tür stand offen.
Auf der Terrasse saß ein einzelner Mann am Tisch vor seinem Laptop.
„Grüß Gott“, sagte ich, den Helm unterm Arm. „Habt ihr offen?“
Er schüttelte den Kopf. „Sorry, heute ist Ruhetag.“ Ich war schon lange unterwegs, der Helm drückte, und ich bat: „Kann ich mich trotzdem kurz hinsetzen und ausruhen?“
„Na klar“, sagte er und lächelte. „Magst was trinken? Ich hab halt nur Nix zu essen.“ „Hast du ein Weißbier?“
Er verschwand drinnen hinter der Theke. Weißbier vom Fass! Bei meinem Vorstellungsgespräch bei der Stadt München im Jahr 2004 war das meine ehrliche Begründung, warum ich von Berlin nach Bayern möchte. Weil hier einfach das Bier besser schmeckt. Ich wurde damals eingestellt. So falsch kann also diese Antwort nicht gewesen sein.
Er stellte das Glas vor mich. Kalt, frisch, ein Duft von Hefe und Sommer. „Schmeckt hervorragend“, sagte ich. „Ich mag so kleine Brauereien.“
Er nickte, ohne recht darauf einzugehen.

Da trat eine Frau auf die Terrasse, vielleicht in meinem Alter. Die beiden wechselten ein paar leise Worte. Dann wandte er sich wieder mir zu.
„Kommst du aus Lindau?“, fragte er und deutete auf mein Kennzeichen.
„Landshut“, erwiderte ich. „Und eigentlich bin ich hier, um die Windräder anzuschauen.“ Er lächelte schmal. „Witzig. Hier im Wirtshaus haben sich damals die Windkraftgegner getroffen.“
Er erzählte, wie hitzig es gewesen war, wie sehr der Ort darüber gestritten hatte. Wir sprachen eine Weile über Politik, über Demokratie. Nach zwei Telefonaten und Stille fing er wieder an. Ein Gastwirt der an seinem Ruhetag Lust hat mit einem Fremden zu reden, ist schon was seltenes. „Ich war neulich auf einer Brennermesse in München. Obstbrände, erstklassig. Manche ausgezeichnet.. Da sprach mich auch einer zu den Windrädern an.“
„Ich bin ehrenamtlich Geschäftsführer einer Klosterdestillation“, sagte ich.
Er lachte überrascht. „Also fährst du wegen Kommunalrecht hierher und hast auch noch mit Schnaps zu tun.“ Er erzählte es gleich stolz der Frau, die inzwischen wieder gekommen war, auch wenn er manches durcheinanderbrachte. „Eigentlich bin ich hauptberuflich Bürgermeister“, korrigierte ich.

Sie blieb stehen und stieg ins Gespräch mit ein. Da begannen beide mir vom Wirtshaus zu erzählen. Früher gehörte es einem Verein der es in Eigenleistung aufgebaut hatte. Gute Konditionen, Leben möglich. Er selbst war hier im Dachgeschoss aufgewachsen. Doch seit es an eine Brauerei verkauft wurde, stiegen Kosten und Auflagen. Mitarbeiter mussten bezahlt werden, Einnahmen sanken. „Wir überlegen, ob das das Ende ist“, sagte er leise. Seine Stimme stockte.
Ich hörte zu. Während beide sprachen und der Schmerz über den drohenden Verlust, aber die Schwierigkeit loszulassen, immer deutlicher wurde, kam mir „Buridans Esel“ wieder in den Kopf. Ich fragte: Kennt ihr die Geschichte? Der Esel, der durstig und hungrig zwischen Heuhaufen und Wassereimer steht, beides gleich weit entfernt, und am Ende verhungert und verdurstet, weil er sich nicht entscheiden kann? Er nickte, sah weg. Ich glaube seine Augen glänzten. Sie stand wie versteinert da, schluckte sichtbar, sagte: tja und ging hinein.

Später, als er von seiner Verbundenheit zu diesem Haus sprach, sagte er: „Wir hängen daran. Zwölf Jahre haben wir es geführt. Aber wirtschaftlich… geht’s nicht mehr.“
„Wenn der Wind der Veränderung weht“, sagte ich, „setzen die einen Segel und die anderen werfen Anker.“
Er atmete tief ein. „Ich versuche, Anker zu werfen. Meine Frau will Segel setzen. Und das… zerreißt uns.“

Es war still. Nur das Rauschen der Bäume im Abendwind und im Hintergrund leise Musik aus dem Wirtshaus. Es lief „Apocalypse“. Wie passend, dachte ich. Ich wusste, unser Gespräch hatte ihn berührt – und zugleich erschüttert. Es tat mir leid, als Fremder in so kurzer Zeit für die beiden ihr eigenes Thema so zu verdichten. Aber irgendwie sollte es sein.

Bevor ich ging, wollte er mir noch etwas zeigen. Wir gingen ums Haus. Auf der Rückseite stand ein großes Kruzifix, sorgfältig gepflegt, das mir beim Ankommen überhaupt nicht aufgefallen war.
„Das sind meine heiligen Bienen“, sagte er.
Ich trat näher – und sah, wie hinter dem Corpus, zwischen Kreuz und Figur, ein Bienenvolk lebte. Waben schimmerten, Bienen krochen lautlos hin und her.„Seit zwei Jahren sind sie da“, sagte er. „Kein Imker kriegt sie raus. Die Königin sitzt tief drin. In einem Loch im Hintern von Jesus Christus. Da kommt keiner ran.“
Ich machte ein Foto. Wir verabschiedeten uns. Dann gab ich ihm unter dem Kreuz noch etwas mit: „Ein guter Freund ist evangelischer Theologe. Er sagte mal zu mir: im Alter zwischen 45 und 50 ist der letzte große Lebensabschnitt in dem man von Grund auf neu beginnen kann. Da ist man erfahren und reif, aber auch noch fit genug für einen Neuanfang. Gott zeigt uns manchmal seltsame Wege. Aber es liegt bei uns die offene Tür zu erkennen, zu vertrauen und den ersten Schritt zu tun.“

Wir sind beide 1978er. Er nickte, und in seinem Blick lag etwas, das nicht mehr nur von diesem Tag handelte.
Als ich das Motorrad startete, stand er noch im Türrahmen. Die Sonne stand noch tiefer. Der Abendwind trug den Geruch von warmem Holz zu mir herüber. Er winkte. Ich winkte zurück. Die Windräder warteten.
An diesem Abend waren wir drei nicht allein.