Seit 1994, als ich den Film Philadelphia das erste Mal sah, erinnere ich mich an einen Dialog. Genauer an ein Zitat der Hauptfigur Andrew Beckett aus dem sog. Airlineurteil von 1973. Er sagt:
„… weil die Vorurteile im Umfeld von Aids einen gesellschaftlichen Tod bewirken können, … der dem physischen Tod vorausgeht.“
In den nun zwei Jahren in denen ich zum Ersten lernte, dass ein Großteil der wandernden Schmerzen in meinem Körper der Borreliose entspringen, mit der ich nun leben muss, lernte ich auch, dass der Körper und die Seele tatsächlich eins sind. Geht es mir körperlich schlecht, fehlt die Lust etwas zu unternehmen, der Antrieb Aufgaben anzugehen und manchmal gar die Hoffnung, dass es wieder besser werden wird. Geht es mir seelisch schlecht meine ich es kompensieren, überspielen zu können. Stark zu sein! Doch hier liegt die Gefahr. Wenn die Seele schmerzt, wenn es brennt im Kopf oder im Herzen, ist es eine Frage der Zeit, dass der Körper mit reagiert. Das unsere Schwachstelle, der Bauch, die Muskeln, der Nacken oder sonst wo sich rührt und sagt: „Hi, hier bin ich! Ich schalt dich aus, ob du willst oder nicht.“ Wir lehren unseren Kindern die Bedingungen der Leistungsgesellschaft. Halten uns für gute Vorbilder beim Arbeiten mit Kopf unter dem Arm. Beim Antworten: „Alles gut!“
Ist wirklich alles gut? „Das vergeht schon wieder! Schlaf mal drüber!“ Stimmt, oft tut es das. Aber die Last bleibt, da hinten. Versteckt hinter dem Hypothalamus. Die kleine Angst. Angst zu versagen. Angst nicht zu gefallen. Angst nicht dazuzugehören. Angst nur Zweiter zu werden. Selbstbild-Fremdbildabgleich. Sehe ich mich selbst so wie die Anderen mich sehen? Bin ich zu hart mit mir? Oder strenge ich mich nicht genug an? Oder bin ich vielleicht so arrogant, dass ich mein eigenes Unvermögen als Leistung als Können einschätze?
Das Gleichgewicht der Seele ist entscheidend für das Gleichgewicht des Körpers. „Mens sana in corpore sano!“ (Juvenal) – In einem gesunden Körper lebt ein gesunder Geist! Das stimmt! Und schon die Kinder lernen es. Doch der Umkehrschluss ist unbekannt – verdrängt. Es braucht einen gesunden Geist, damit der Körper gesunden kann. Es ist wie bei Menschen die imm Begriff sind zu sterben. Viele haben es schon erlebt und können aus der eigenen Erfahrung davon berichten, dass ein naher Angehöriger im Sterben liegt und man auf den Tod wartet. Gemeinsam. Aber der Tod kommt nicht, oder scheint nicht kommen zu wollen.
Im Jahr 2000 gab mir meine Nachbarin Karin Quandt in Berlin in der Königin-Elisabeth-Straße ein Buch von Elisabeth Kübler-Ross welches sich mit den Phasen des Sterbens auseinandersetzt. Seit dem ist mir bewusst, dass der Mensch manchmal die Möglichkeit hat den allerletzten Schritt selbst zu bestimmen. Im Grunde eine einzigartige sehr schöne Vorstellung. Selbst bestimmen zu dürfen wann ich loslasse. Es ist die Bitte etwas zu holen, was der Wartende am Bett erfüllt, damit der Sterbende sterben kann. Vielleicht um das Leid zu ersparen. Vielleicht um den letzten Schritt allein gehen zu dürfen, um Würde zu behalten. Es ist das Gespräch, das Bekenntnis, dass so lang ausblieb und nun endlich ausgesprochen werden konnte. Der Wille, der Geist, die Seele ist der wesentliche Bestandteil des Menschseins. Wenn er in der Lage ist den letzten Schritt in Raum und Zeit zu bestimmen, warum geben wir darauf nicht mehr acht?
Andrew Beckett bezieht seine Aussage auf die Tatsache, dass die Diskriminierung als AIDS-Kranker ihn gesellschaftlich isoliert und ihm, bevor er stirbt, zuerst gesellschaftlich das Leben nimmt. Hier ist es als Sozialkritik zu verstehen die diese Erkrankung per Urteil als Behinderung definiert und damit unter Kündigungsschutz stellt. Über die Zeit seit 1994 nehme ich es für mich immer mehr im Kontext des Lebens als Leben wahr. Das bedeutet, dass es uns nicht als Mensch auszeichnet, das wir die Grundbedürfnisse befriedigen, atmen, essen und schlafen. Es zeichnet den Menschen als Mensch aus, dass er Gefühle hat. Gefühle gegenüber Mitmenschen, Situationen, Orten und gegenüber der gesamten Schöpfung. Leben bedeutet ein Risiko einzugehen, denn wir wissen unsere Zeit ist endlich und wir bewegen uns mit jeder Sekunde die wir verbringen ein Stück mehr auf den Tod zu. Die letzte Phase des Lebens wurde früher allgemein als das Siechtum beschrieben. Kübler-Ross detailliert hier und beschreibt in den fünf Phasen des Sterbens sehr gut was in uns vorgeht.
Zitat – Depression n. Elisabeth Kübler-Ross
Hat der Betroffene realisiert, dass er sterben wird, kann dies mit Depressionen, Ängsten und Trauer einhergehen. Er betrauert die Verluste, die er durch die Erkrankung erleiden muss: Verlust körperlicher Integrität, Verlust persönlicher und beruflicher Chancen, Verlust von nicht Nachholbarem und Wünschen, die er sich in gesunden Tagen nicht erfüllt hat. In dieser Phase ist es sehr wichtig zuzuhören und dem Betroffenen dadurch Entlastung zu bieten.
In der vierten Phase geht es um den Verlust. Nicht den Verlust des Lebens an sich, sondern den Verlust dessen was nicht mehr sein wird, oder gar nicht erst war. Ohne dieses Erkennen ist es schwer akzeptieren zu können, dass es nun so ist wie es ist und das der Tod vor der Tür steht. Bei aller Tragödie hat diese Phase für mich einen beruhigenden tiefen Sinn. Es zeigt, was im Leben wichtig ist. Denn nur das was ich wirklich besitze kann ich wirklich verlieren. Epiktet (Über die Moral) empfiehlt, sich darüber klar zu werden, was ich selbst bestimmen kann und was nicht. Wir meinen über unsere Gesundheit selbst bestimmen zu können. Fataler Fehler! Wir können darüber bestimmen Sie nicht erneut durch Zellgifte zu schädigen. Oder wir können durch gutes Essen und Bewegung dazu beitragen, dass wir eine Chance auf etwas mehr Wohlergehen haben. Aber bestimmen können wir nicht. Wie viele Kerngesunde erkranken schwer. Wieviele junge Menschen wurden schon durch Krebs von uns genommen. Und wie viele rauchen und trinken ein Leben lang und werden doch über 80 Jahre alt.
Aus diesen beiden Polen : „Leben bedeutet das Gegenteil von Verlust!“ und „Ich habe keine Macht über Krankheit und Tod zu entscheiden!“ entsteht für mich eine klare Erkenntnis über das Leben. „Leben bedeutet wesentlich mehr als nur körperlich gesund zu sein. Zudem habe ich keinen Anspruch auf Gesundheit und kann sie nur sehr beschränkt beeinflussen!“
Was ich aber beeinflussen kann ist dieses Gegenteil von Verlust. Nennen wir es Erfüllung. Ich kann mich mit anderen Menschen treffen. Ich kann tanzen. Musik hören. Gestalten. Lieben. Reisen. Erlebnisse teilen und Geschichten erzählen. Denn am Ende des Lebens geht es nicht um die Frage ob ich die Seychellen je gesehen habe. Es geht darum ob ich sie mit dir erleben konnte. Ob ich mit euch getanzt habe. Ob wir musiziert haben und ob das Publikum applaudiert hat. Nicht weil wir das so gut gemacht haben, nein weil wir Freude bereitet haben. Weil wir Liebe gegeben haben. Weil wir Mensch waren und als ganzer Mensch mit unserem Wesen und unserem Sein in Erinnerung bleiben.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagt im April 2020 im Tagesspiegel: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Er ist für den Satz kritisiert worden, da er das höchste Grundrecht der Menschenwürde relativiert und die Debatte (wieder) eröffnet ob das Leben des Einen mit dem Leben des Anderen abgewogen werden darf. Dieser These wurde mehrfach, auch vom von mir hochgeschätzen Hans-Jürgen Papier beantwortet. Leben ist gegen Leben im staatlichen Handeln nicht abwägbar. Punkt.
Doch geht es bei den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der zweiten Welle überhaupt um den Schutz des Lebens? Wäge ich gerade ein Leben gegen ein anderes ab?
Der letzte Satz der Schäuble’schen Aussage bleibt in meinem Kopf. Er sagt im weiter gedacht, dass es kein Recht, keinen Anspruch auf Gesundheit gibt. Es kann auch kein Recht auf Gesundheit geben, da wir weder das Wissen noch die Möglichkeiten haben sicherzustellen, dass alle Menschen immer gesund sind. Wenn es aber weder einen tatsächlichen noch einen rechtlichen Anspruch auf Gesundheit gibt. Warum ordnen wir der Gesunderhaltung derzeit alles unter? Warum suggeriert der Staat dem Bürger, dass durch die Untersagung von Kulturveranstaltungen, durch das Schließen von Gaststätten und Restaurants mit besten Hygienekonzepten und nachweislich geringen Ansteckungsraten damit Krankheit vermieden und Gesundheit erhalten werden kann?
Warum sind heute am Sonntag Allerheiligen – ein Tag vor dem Lockdownlight – alle Lokale in unserer Region restlos ausgebucht? Warum sind selbst kleinste Konzerte und Kulturveranstaltungen an diesem Wochenende ausverkauft und gibt es nicht ein freies Fitnessgerät im Studio, bevor es morgen am Aschermittwoch Nr.2 des Jahres 2020 alles vorbei ist?
Weil Leben mehr bedeutet als Überleben! Weil die Seele nochmal einen tiefen Zug nehmen will, bevor sie morgen zum ein- oder zwei- oder dreimonatigen Tauchgang ansetzt. Denn Niemand vertraut den Aussagen, dass es um den Dezember geht – um Weihnachten. Jeder kennt die Regierung und erlebt durch Aussagen wie: „Kommunen lasst Heizpilze zu, damit die Gastronomie nicht schließen muss!“ Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.
Ja, ich bin bei den FREIEN WÄHLERN. Ja, diese regieren im Land Bayern mit. Ja, die Heizpilzaufforderung kam von unserem Wirtschaftsminister. Und ja, ich verstehe jeden der mit dem Lockdownlight nicht nur das Vertrauen in die bayerische Staatsregierung und die FREIEN WÄHLER verliert. Ich verstehe auch jeden der sich durch diese Entscheidungen vom Prinzip der Parteiendemokratie hinters Licht geführt fühlt. Der im Herbst nächsten Jahres sein Kreuz weiter rechts oder weiter links machen wird, wenn er oder sie überhaupt zum Wählen geht.
Ich kann die Fragen nicht beantworten, die mir nach dem Sinn einzelner Regeln täglich gestellt werden. Mir fehlt die Antwort die es auf diese Frage in der Regel braucht: „Das haben die Menschen, die wir gewählt haben so entschieden! Das ist das Prinzip der Demokratie, dass die Mehrheit entscheidet. Ob es der Minderheit passt oder nicht!“ Ich kann diese Worte nicht sagen, denn weder der Bundestag noch der Landtag hat es entschieden. Es waren 18 Menschen von denen drei vor Ort waren und die anderen 15 per Videochat hinzugeschaltet wurden. Diese haben über 80 Mio. Menschen entschieden und ließen das Ganze am Ende von ihren Parlamenten abnicken. Das wäre wie, wenn ich die Sanierung aller Straßen inkl. Erschließungsbeiträge der Anlieger entscheiden würde, das ins Infoblatt schreibe und dann das Ganze auf die Tagesordnung hebe um es vom Gemeinderat absegnen zu lassen. Was würde da wohl passieren?
Der inzwischen in Ungnade gefallene Sänger Xavier Naidoo sang 2005: „Nicht mit vielen wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr „. Und ich frage mich erneut, was in meiner Macht liegt um das Leben als Leben zu leben. Jeder von uns kennt mind. eine Antwort auf diese Frage und weiß, dass es eben nicht einfach, wenn nicht sogar unmöglich ist die Vielfalt des Lebens mit wenigen Worten in Gesetzen und Verordnungen auszudrücken. Und so bleibt mir an diesem Tag nur eins. Ich muss akzeptieren. Denn mein Dilemma aus Amt und Mensch lässt keine Alternative zu. Das Einzige was bleibt ist dieser Text. Der Versuch das Unmögliche in Worte zu fassen. Klarheit über das was entschieden wurde zu suchen und doch nicht zu finden. Aber die Möglichkeit auch selbst zu erkennen, dass ich Spielräume habe. Das ich diese nutzen kann. Dass ich mich nochmal vollsaugen kann mit Eindrücken und Orten. Das mich nicht der vorauseilende Gehorsam erfasst. Das ich mich nicht zum Blockwart machen lassen. Für mich waren es die letzten 48 Stunden. Denn was morgen ist weiß ich nicht. Du bleibst so wunderbar.
PS: Diese Zeilen entwachsen dem kumulierten Eindruck unserer Berlinreise mit all ihren Herausforderungen und Schönheiten. All ihrem zivilen Ungehorsam und der Erinnerung an einen der schönsten Abende der vergangenen Wochen. Danke FloBêr. Danke Deutsche Bahn. Danke Berlin.